Die moderne Literatur Afghanistans
Ein kleiner Einblick



Von Monika Pappenfuß



Die afghanische Literatur blickt auf eine lange und reiche Tradition zurück, obwohl Afghanistan ein relativ junger Staat ist. In den heutigen Grenzen existiert er erst seit rund 100 Jahren. Seit jeher lebten auf dem heutigen Staatsgebiet viele verschiedene Völker und Volksgruppen mit ganz unterschiedlichen Sprachen und Kulturen eng beieinander.

Die afghanische Erzähltradition war sowohl in Farsi-Dari (Persisch) als auch in Paschto weitestgehend lyrisch geprägt. Moderne Prosaformen unterschiedlichster Art, vom journalistischen Bericht oder Essay bis zu literarischen Kunstformen wie Roman oder Kurzgeschichte, haben sich erst im zwanzigsten Jahrhundert und unter westlichem Einfluss herausgebildet. Ein wichtiger Wegbereiter für diese Entwicklung war Mahmud Tarzi (1867 bis 1935), der den politischen Reformkurs der Zeit nutzte und von 1911 bis 1918 die erste wichtige Zeitung, Seraj ul akhbar (Leuchte der Nachrichten) herausgab. Er schuf damit ein erstes Forum für intellektuelle Auseinandersetzungen, stellte aber auch durch die in seinem Blatt abgedruckten Essays und Übersetzungen von Prosatexten aus Mitteleuropa einen ersten Kontakt zur westlichen Literatur her. Zahlreiche weitere Zeitungen folgten und erweiterten das Spektrum der Möglichkeiten für intellektuelle Debatten und für die Verbreitung moderner Prosa.

Viele bedeutende Autoren, die in Dari oder Paschtu schrieben, hielten engen Kontakt zu Presse und Rundfunk und veröffentlichten hier erstmalig ihre Texte. Mit den dreißiger Jahren setzten sich in den Feuilletons die westlichen Gattungen wie Novelle, Kurzgeschichte, Theaterstück und (Fortsetzungs)roman immer stärker durch. Dabei kristallisierten sich zu dieser Zeit zwei große Stoffgebiete heraus:

Das erste umfaßt historische Themen, wobei viele Texte von einem verklärenden Patriotismus geprägt waren. Der zweite setzt sich in meist realistischer Form kritisch mit der Gegenwart auseinander. Der aufklärerische, an westlichen Idealen geprägte Impetus des Reformers Tarzi ist hier deutlich spürbar. Wichtig ist jedoch, dass zu dieser Zeit weder an den religiösen noch an den gesellschaftspolitischen Grundregeln der islamisch geprägten Gesellschaft ernsthaft gerüttelt wurde. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Radikalisierung sozialkritischer Themen in der Literatur. Federführend für diese Entwicklung war eine 1947 gegründete literarische Vereinigung, die sich wesh zalmayan (Wache Jugend) nannte und zu der sich überwiegend paschtunische Dichter zusammenschlossen. Diese Gruppe existierte nur kurz, hat aber dennoch die Literatur maßgeblich beeinflusst. Die Forderung nach einer kritischen Literatur ging mit der Bestrebung einher, sich explizit von klassizistisch-romantischen Dichtungstraditionen abzusetzen. Benawa und Ulfat sind u.a. wichtige Autoren dieser Zeit. In Benawas´ Gedichtzyklus "Traurige Gedanken" (preshana afkar, 1957) geht es zum Beispiel um das Thema der Machtlosigkeit. Immer wieder taucht das Motiv des Waisenkindes auf, das ebenfalls als Ausdruck der Verlassenheit und gesellschaftlichen Entrechtung des Menschen zu deuten ist. Benawa gestaltet auch die eklatanten Unterschiede zwischen arm und reich in seinem Land und die Willkürherrschaft von Beamten, der die große Masse der Besitzlosen ausgesetzt ist, während Ulfat den Frauen in ihrer Klage über ihre gesellschaftliche Stellung eine Stimme verleiht.

Dennoch war der Anspruch dieser Künstler nicht allein ein sozialkritischer und der künstlerische Rahmen der meisten von ihnen breiter angelegt. Eine einseitige ideologische Zielrichtung, beispielsweise eine eindeutige marxistische Grundtendenz, lag ihnen ohnehin fern. Dies wird schon allein daran deutlich, dass die Sowjetunion, eine der wenigen Staaten, die sich literaturwissenschaftlich mit Afghanistan auseinandersetzten, diesen Autoren eher ablehnend gegenüber stand. Sowjetischen Kritikern missfiel, dass die Gesellschaftskritik der modernen afghanischen Autoren nicht über bürgerlich-liberale Ansätze hinausführte. Sie waren ihnen schlichtweg nicht sozialkritisch genug.


Die Stellung der afghanischen Literatur in der westlichen Welt



Leider sind die Literaturen Afghanistans, von der durch die marxistische Literaturtheorie geprägten sowjetischen Kritik einmal abgesehen, bisher außerhalb des Landes nahezu nicht zur Kenntnis genommen worden. Diese Lücke wurde eigentlich erst mit dem 11. September 2001 offensichtlich, als das Interesse der westlichen Welt sich durch ein politisches Ereignis plötzlich und unerwartet auf ein Land fokussierte, das in den letzen Jahrzehnten gänzlich aus dem öffentlichen Interesse geschwunden war.

Richtig nachvollziehen läßt sich der radikale Abriss des Interesses, der mit dem Einmarsch der Sowjets begann, eigentlich nicht, zumindest was Deutschland anbelangt, gab es doch bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts enge Kontakte zwischen Afghanistan und Deutschland. Es liefen nicht nur zahlreiche wirtschaftliche Entwicklungsprojekte sowie Alphabetisierungs- und medizinische Hilfskampagnen, die von Ärzten und Ingenieuren vor Ort unterstützt wurden. Auch Lehrer aus Deutschland und anderen Ländern des westlichen Auslands unterrichteten am deutschen und am französischen Gymnasium für Jungen und Mädchen in Kabul, Hochschullehrer an den Universitäten, und es gab sogar ein Goethe-Institut. All das läßt einen regen kulturellen Austausch vermuten. Tatsache ist jedoch, dass auch aus diesen Zeiten kaum Literatur aus Afghanistan nach Deutschland drang. Von dem blühenden kulturellen Leben Kabuls aus der Zeit vor der sowjetischen Okkupation und der anschließenden Schreckensherrschaft der Taliban gibt es kaum Zeugnisse.

Die Frage drängt sich auf, warum das so ist. Aus jedem Winkel der Welt schwappen riesige Bücherwellen auf den deutschen Markt, die Frankfurter Buchmesse mit ihrem bisherigen Verfahren, die Literatur eines Landes zum Themenschwerpunkt zu erheben, trug zur jährlichen Fokussierung des Leserinteresses auf die Literatur eines Landes bei, die bisher vielleicht nur am Rande oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Afghanistan gehörte offensichtlich nicht dazu. Warum, muss man sich erneut fragen, weckte dieses Land mit seiner reichen literarischen Tradition keine Neugier? Die Antwort ist einfach und in letzter Zeit schon häufig in Zusammenhang mit Afghanistan formuliert worden: Die Medien mit ihrer Macht, Interesse zu wecken oder zu unterbinden, haben dieses Land jahrzehntelang ausgeblendet. Nur so ist zu erklären, dass die politischen Entwicklungen in Afghanistan gänzlich unbeachtet blieben und sich erst recht kein Interesse an der Literatur dieses Landes bilden konnte.


Wendepunkt

Die Situation hat sich nun schlagartig verändert. Die Welt starrt auf dieses vergessene Land. Man interessiert sich für seine Menschen, die Lebensumstände, unter denen sie leben, für ihre Kultur. Nun gibt es plötzlich auch hier Leser, die sich nicht nur durch die Medien, sondern auch durch die Literatur einen Zugang zu der fremden Welt verschaffen wollen, von der tagtäglich im Fernsehen berichtet wird.

Die Interessenlage ist schlagartig eine andere - und was nun?

Derjenige, der in den vergangenen Monaten in Buchhandlungen oder Bibliotheken nach zeitgenössischer Literatur aus Afghanistan stöberte, musste feststellen, dass sich vor ihm ein nahezu komplettes Vakuum auftut. Der einzige Band mit modernen Erzählungen stammt von 1972 und ist im Buchhandel nicht zu haben, dasselbe gilt für zwei Sammlungen mit Märchen und Erzählungen und eine weitere von 1990. Namen von Autoren der literarischen Moderne aus Afghanistan sind in Deutschland gänzlich unbekannt. Somit ist der deutsche Leser von der Möglichkeit, die literarische Verarbeitung der jüngsten afghanischen Geschichte, die zweifellos stattgefunden hat, mitzuerleben, abgeschnitten und bleibt bei seiner Annäherung an dieses Land auf die Informationsquellen der Massenmedien angewiesen. Ein Kontakt durch einen subjektiven Ausschnitt von Welt, den der literarische Text bietet, findet nicht statt, oder doch?



Die Geschäftstüchtigen der Literaturindustrie haben auf die Marktlücke schnell reagiert und das Problem scheinbar gelöst. In den letzten Wochen und Monaten ist eine Flut an Erlebnis- und Betroffenheitsliteratur sowie von abenteuerlichen Reiseberichten erschienen, die das erste Bedürfnis nach "literarischer" Verarbeitung des Themas befriedigen und natürlich die Kassen klingeln lassen soll. Viele Berichte stammen auch aus der Feder von Ausländern, Journalisten oder Entwicklungshelfern, die einige Zeit im Land gelebt und die Situation vor Ort kennengelernt haben, z.T. handelt es sich auch um Bücher älteren Datums.

Die Rechnung ging auf: Entsprechende Bücher führen die Bestsellerlisten an und sind zu Kassenschlagern geworden. Das Elend der Kriegskinder, die menschenunwürdige Situation der Frau, die Brutalität, die den Alltag der Menschen in den letzten Jahrzehnten bestimmte und die erbärmliche Situation in den Flüchtlingslagern verkauft sich durch die Bilder aus dem Fernsehen, die sich dem potentiellen Leser ins Gedächtnis gebrannt haben, besser als so mancher Krimi. - Nur, mit Literatur hat das Ganze wenig zu tun!

Dass es aber durchaus eine moderne literarische Elite in Kabul gab, die sich, auch vor den beiden aufeinander folgenden Gewaltherrschaften, kritisch, literarisch anspruchsvoll und meist in Form von kurzen Erzählungen mit ihrer Realität auseinandersetzte, beweist allein der Erzählband "Moderne Erzähler der Welt. Afghanistan" von 1972, auf den bereits hingewiesen wurde, und es steht zu vermuten, dass diese noch junge literarische Tradition auch zu den undenkbar schwierigen Bedingungen, die mit der russischen Okkupation begannen, nicht gänzlich abgerissen ist. Der Erzählband vermittelt einen kleinen, aber durchaus vielversprechenden Eindruck von den erzählerischen Fähigkeiten und den Themen moderner afghanischer Autoren im Bereich der Kurzprosa und soll deshalb anhand von einigen Beispielen kurz vorgestellt werden.


Knapper Einblick in afghanische Kurzprosa der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts




In Karim Misaqs "Verteidigung...! geht es um eine Frau, die bei der Geburt ihres Kindes stirbt, da ihr Ehemann ihr ärztliche Hilfe durch einen anderen Mann, einen herbeigeholten Arzt, versagt. Die Begebenheit wird aus der Perspektive eines Nachbarn erzählt, der durch die nächtlichen Schreie der Frau aufgeschreckt einen Arzt herbeiholt und an der Tür rüde abgewiesen wird.

Spojmai Zaryab gestaltet in "Die Daristunde" die beklemmende Atmosphäre in einer Mädchenschule. Interessant ist hier vor allem der Gefühlszustand der Lehrerin, ihr Schrecken vor dem abweisenden und lernfeindlichen Klima in den heruntergekommenen Räumen und das damit in engem Zusammenhang stehende Verhalten ihrer Schülerinnen.

Mohammad Musa Schafiqs "Herr Doktor" ist wohl stark autobiographisch gefärbt. Der Autor hat in den USA Rechtswissenschaften studiert. In seiner Erzählung geht es um einen Mann, der in Europa studiert hat und nach Abschluss seines Studiums in seine Heimat zurückkehrt, da er überzeugt ist, dass er nur hier eine Frau finden kann, mit der sein Wertesystem harmoniert. Bei einer Abendveranstaltung in der gehobenen Kabuler Gesellschaft muss er jedoch die Ähnlichkeiten der Mädchen aus seinem Kulturkreis mit denen aus Paris feststellen. Zumindest in dieser Gesellschaftsschicht zählen auch nur "money and position".

Kam in der soeben vorgestellten Erzählung die Enttäuschung über die Oberflächlichkeit der Kabuler Elite zum Ausdruck, geht es anderen Autoren um eine unverblümte Kritik an Korrumpierbarkeit und Grausamkeit von Inhabern staatlicher oder auch geistlicher Ämter. In ihren Erzählungen geht es u.a. um gewaltätige, ihre Macht zur persönlichen Bereicherung nutzenden Hakime oder auch um einen grausamen und bestechlichen Mullah, der seine Schüler quält.

"Das trostlose Haus" von Marjam Mahbub macht deutlich, dass die Unterdrückung der Frau nicht erst seit den Taliban ein Thema in Afghanistan war und die reiche, westlich geprägte Kabuler Elite, wie sie Schafiq beschrieben hat, nur einen sehr kleinen Ausschnitt der afghanischen Gesellschaft repräsentiert. Als letztes Beispiel sei auf Gholam Ghaus Schodjaies "Wann denn?" verwiesen, die von den Ängsten und der Hoffnungslosigkeit eines jungen Paares erzählt, dass sich heimlich treffen muss.


Für die These, dass die oben beschriebene Entwicklung einer modernen afghanischen Prosa mit der sowjetischen Okkupation nicht gänzlich gestoppt worden ist, gibt es nur wenig Belege. Tatsache ist zunächst, dass die intellektuelle Elite Kabuls sich während dieser Zeit nahezu aufgelöst hat. Viele Intellektuelle, darunter auch Schriftsteller, wurden ermordet, andere flohen ins Exil und leben heute in Pakistan, im Iran, aber auch in westlichen Ländern wie Deutschland, Frankreich und den USA. Von den meisten der in dem Erzählband versammelten Autoren verlieren sich die Spuren. Nur sehr wenige unter denen, die im westlichen Exil leben, sind dort als Schriftsteller bekannt geworden. Dies und die Tatsache, dass auch vor der Zeit der sowjetischen Okkupation kein Verbindungsband zur afghanischen Literatur geknüpft wurde, das die Ausblendung des Landes aus den Medien der vergangenen Jahrzehnte überstanden bzw. aufgebrochen hätte, führte dazu, dass es nahezu keine literarischen Zeugnisse aus dieser Zeit und danach auf dem deutschen Buchmarkt gibt.


Eine Hoffnung für den an der Literatur dieses Landes Interessierten stellt das Schriftstellerehepaar Rahnaward und Spojmai Zaryab dar, das in den 70er Jahren zu den vielversprechendsten Talenten unter den modernen Autoren in Afghanistan gehörte und das heute im französischen Exil lebt.


Spojmai Zaryab

Literarisch höchst interessant sind auch die Texte von Spojmai Zaryab. Ihre Liebe zur Literatur wurde bereits sehr früh durch ihren Vater geweckt, der, wie sie in einem Interview berichtet, ihr nie das Gefühl vermittelt habe, als Mädchen weniger Freiheiten und Rechte zu besitzen. Allabendlich las er Gedichte vor, die Spojmai auswendig lernte und die den Grundstein für ihre Liebe zur klassischen persischen Poesie legten. Neunzehn Jahre konnte sie in einem freien Land leben. Sie war genau zehn Jahre alt, als Daud den Schleierzwang für Frauen und Mädchen 1959 aufhob, der vor allem den Frauen in den Stadtzentren seit dem 13. Jahrhundert auferlegt war ( auf dem Land und unter den Nomaden trugen die Frauen nur in Anwesenheit von Fremden den Schleier, der sie bei der harten körperlichen Arbeit behinderte). Sie war fünfzehn, als das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde. Zwar hielten auch in den Städten viele Frauen, sei es aus Traditionsbewußtsein, sei es unter dem Druck der Familie, an der Verschleierung fest - meist waren es die Frauen aus den einfacheren Verhältnissen - Spojmai jedenfalls wuchs ohne diese Einschränkung ihres Blickfeldes ( das später ein ständiges Thema in ihren Arbeiten sein wird) auf. Sie besuchte unverschleiert das französische Mädchengymnasium Malalai, ohne zu ahnen, dass die Taliban 1996 den Verschleierungszwang rigoroser als je zuvor wieder einführen würden. Auf die Schule folgte der Besuch der Kunsthochschule in Kabul sowie das Studium der Literatur in Kabul und Besancon, schließlich promovierte sie in Montpellier in Literaturwissenschaften.

Die Periode von 1959 - 1978 brachte eine Frauengeneration hervor, die relativ frei ihre Talente in den unterschiedlichsten Bereichen entfalten konnte. Es gab Lehrerinnen, Ärztinnen, Angestellte in der öffentlichen Verwaltung und Schriftstellerinnen wie Spojmai. An den Gymnasien der Hauptstadt wurde englisch, deutsch, französisch und russisch unterrichtet. Hier entdeckte Spojmai auch ihre Vorliebe für die französische Sprache und Literatur bzw. für westliche moderne Erzähler allgemein, die ihren eigenen Stil stark beeinflusst haben.

Die kurze Phase der gesellschaftlichen Liberalisierung wurde durch die Ermordung Dauds durch Moskauer Vasallen und den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan beendet. Zwar war es offiziell das Ziel der Sowjets, gerade die Emanzipation der Frau weiter voranzutreiben, was äußerlich durch die Berufung einiger Frauen in verschiedene Ministerien auch so wirken mochte. Insgesamt kam es jedoch, wie bereits erwähnt, zu einer fast vollständigen Ausrottung der städtischen Elite, die den kommunistischen Machthabern zu westlich und deren Literatur ihr zu dekadent war. Unzählige Intellektuelle - Männer wie Frauen - verschwanden hinter den Gefängnismauern von Pol-é Tcharkhî unweit von Kabul und wurden dort gefoltert und ermordet. 1991 floh Spojmai Zariab mit ihren Töchtern ins französische Exil nach Montpellier, ihr Ehemann folgte 1994.



Spojmai Zaryab gehört zu den wenigen afghanischen Autorinnen, die im Exil schreiben und deren Texte dort gedruckt werden. In Frankreich sind bereits zwei Erzählbände von ihr erschienen. Einer erschien im Jahr 2000, ein weiterer im Jahr 2001 auf dem französischen Buchmarkt. Die in dem Band enthaltenen Erzählungen zeugen von der expressiven Kraft der Autorin. Viele sind zur Zeit der kommunistischen Diktatur, einige jedoch auch schon früher entstanden. In allen Texten geht es um Menschen, denen der Bezugspunkt ihres Lebens durch die sie beherrschenden Lebensumstände abhanden gekommen ist. Viele von ihnen bewegen sich deshalb auf einer Gratwanderung zwischen Vernunft und Irrsinn, wie z.B. ein von Angst gequälter Büroangestellter, der in einer nächtlichen Aktion seine Bücher, "seine Kinder", vergräbt.

Spojmai Zaryab entwirft apokalyptische Szenerien wie z.B. in der Titelerzählung des zweiten in Frankreich erschienenen Bandes, wo die fröhliche Atmosphäre eines jährlich stattfindenden Festes einer beklemmenden Finsternis gewichen ist. Die bunten Pferdchen eines Karussellbesitzers, der die Veränderung des Ortes mit Schrecken und Unverständnis registriert, sind Symbol der verlorenen Freiheit, geben aber auch eine Ahnung von dem Glanz und der Lebensfreude vergangener Zeiten..

Spojmai Zaryabs Prosa hat kafkaeske Züge, und auch ihre Vorliebe für die französischen Symbolisten ist deutlich spürbar. Eines ihrer wichtigsten, immer wieder und in den verschiedensten Facetten gestaltetes Thema ist die Angst. Sie erzählt z.B. von der Angst einer Mutter, die ihren halbwüchsigen Sohn vor den russischen Soldaten versteckt, damit dieser nicht von den russischen Militärs angemustert wird oder im Straßenkampf erschossen wird. In einer anderen Erzählung beschwört sie einen beklemmenden bürokratischen Totalitarismus herauf und macht diese Atmosphäre zum Symbol für die Zustände in ihrem Land unter den Sowjets. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung des Einbruchs von Truppen in ein Dorf aus der Perspektive eines dabei verwundeten Mädchens, das im Todeskampf phantasiert und ihre geliebte, vertraute Umgebung nun als apokalyptische Landschaft wahrnimmt, in der die Kühe Blut statt Milch geben und an den Weinstöcken keine Trauben, sondern menschliche Gliedmaßen hängen. Immer wieder versucht sie, den Blickwinkel der Frau hinter den "Gitterstäben" ihres Sehschlitzes, der Burka, nachzugestalten. Die traditionelle Kleidung symbolisiert für sie das Gefängnis, in das nicht nur der weibliche Körper, sondern auch ihr Geist nach der kurzen Phase der Emanzipation gesteckt wurde.



Fast alle Erzählungen von Spojmai Zaryab haben einen konkreten Bezug zur afghanischen Realität. Das besondere an ihnen ist jedoch, dass sie weit über den Rahmen einer Realitätsbewältigung hinausweisen. Sie haben vielmehr universellen Charakter, denn sie erzählen von Menschen, die ihre Freiheit und ihre Würde verloren haben, wie es in vielen Teilen der Welt geschieht.



Bleibt zu hoffen, dass in nächster Zeit Übersetzungen dieser oder anderer interessanter Autoren zu uns kommen. Eine erste Bewegung auf dem Buchmarkt ist bereits zu spüren, z.B. durch den afghanischen Autor Atiq Rahimi mit seinem Roman "Erde und Asche", der unlängst in deutscher Übersetzung erschienen ist.