Sehr geehrter Herr Staatssekretär Westerfeld,

sehr geehrter Herr IHK-Hauptgeschäftsführer Gräßle,

liebe Ex-Azubis,

meine Damen und Herren!

Mein Name ist Nadia Qani. Es ist mir eine große Freude, zu Ihnen über das Thema „Leistung lohnt sich" sprechen zu dürfen. Zunächst gratuliere ich Ihnen ganz herzlich für Ihre außergewöhnlichen Leistungen in Ihrer Ausbildungszeit, für die Sie heute ausgezeichnet werden.

Ja, ich bin sicher, dass sich Leistung lohnt! Allerdings nicht in einem nur auf materiellen „Lohn" verkürzten Sinn. Wer Leistung erbringen will, braucht Bildung und Ausbildung. Dann erst kann eine junge Frau oder ein junger Mann im Beruf erfolgreich sein, Geld verdienen – aber auch in der Familie, in der Gesellschaft und für Mitmenschen etwas leisten.

Für mich ist eine klare und positive Orientierung an Leistungskriterien Voraussetzung für schulische Bildung und berufliche Ausbildung. Auch wenn es für manche provokativ klingen mag: leistungsbezogene Bildung ist sozial weniger selektiv als die Einstellung, jede und jeden nach seinem Gutdünken ohne ein klares, leitendes Konzept lernen zu lassen. Zurückhaltung bei der Forderung nach Leistung kann gerade jenen die Ermutigung entziehen, die sie am meisten benötigen.

Für mich als deutsche Staatsbürgerin mit afghanischer Herkunft, haben „Bildung" und „Leistung" nicht nur aus diesen Gründen eine herausragende Bedeutung.

Bevor ich vor nahezu 30 Jahren vor den anrückenden russischen Besatzungstruppen aus Afghanistan fliehen musste, war ich in meiner Heimat Kabul für eine junge Frau der damaligen Zeit erstklassig ausgebildet:

Ich hatte das einzige Mädchengymnasium in Afghanistan absolviert. Es wurde in Kabul mit deutscher Hilfe geführt. Auf diese Schule – das Wirtschaftsgymnasium „Lycée Jamhuriat" – komme ich später noch einmal zu sprechen.

Aufgrund der exzellenten Vorbildung konnte ich mein Berufsleben als Chefsekretärin der Exportabteilung im Wirtschaftsministerium starten. Als ich bald darauf heiratete, schien mein Glück perfekt.

Diese Illusion währte ganze drei Monate.

Dann musste mein Mann – ein Enkelsohn des afghanischen Vizekönigs – vor den Besatzungstruppen der Russen fliehen. Auch ich wurde bedroht und entkam bei Nacht und Nebel über Pakistan nach London. Dort endete meine Flucht zunächst, bis mein Mann, der bereits über Frankreich nach Deutschland entkommen war, mich mit Hilfe von Amnesty International nach Frankfurt holen konnte.

Mit einer einzigen Tasche in der Hand kam ich hier an. Ich war 19 Jahre alt und besaß weder deutsche Sprachkenntnisse, noch konnte ich mit meiner afghanischen Ausbildung in Deutschland etwas anfangen. Ich hatte mit der Heimat zugleich meine Familie, alle Freunde und hilfreichen Kontakte, meinen gesamten Besitz hinter mir gelassen und startete von „Null" an.

Damit wir hier in Frankfurt leben konnten, suchte ich mir zunächst eine Arbeit und eine Sprachenschule. Als Kassiererin im Supermarkt musste ich hauptsächlich mit Zahlen und Geld umgehen, umfassende Sprachkenntnisse waren dabei eher zweitrangig.

Den Besuch der Sprachenschule unterbrach ich nach der Geburt meines ersten Sohnes nur für kurze Zeit. Mein Mann war zwar hoch gebildet aber vom Krieg so traumatisiert, dass ich jeden Job übernahm, der mir irgendwie zu leisten schien: ich bot Babysitten an, füllte Supermarktregale und ging als Putzfrau in ein Pflegeheim.

Später – inzwischen war mein zweiter Sohn geboren – wurde ich Pflegehelferin und traf auf die ersten Patienten mit Migrationshintergrund. Ich erkannte, dass Menschen mit einer anderen Muttersprache im Alter die deutsche Sprache wieder vergessen, sofern sie diese jemals beherrschten.

Daraus – und aus meinen eigenen Erfahrungen als junge Frau im fremden Land – entstand die Idee für einen Pflegedienst mit muttersprachlicher Betreuung.

Längst bin ich deutsche Staatsbürgerin, während mein Herkunftsland noch immer vom Krieg und den Heimsuchungen der Taliban zerstört ist.

Ich bin Deutsche – aber ich habe Afghanistan nicht vergessen. Die Taliban-Diktatur unterdrückte nicht nur Andersdenkende und vor allem Frauen, sie waren darüber hinaus auch bildungs- und leistungsfeindlich.

Kein Mädchen durfte eine Schule besuchen. Fast alle Schulen und Universitäten im Land wurden geschlossen. Keine Frau durfte außerhalb ihres Hauses einer Arbeit nachgehen. Heute sehen sich zum Beispiel junge Witwen unerwartet in der finanziellen Verantwortung für ihre Familien, ohne je einen Beruf erlernt oder ausgeübt zu haben. Es fehlt im ganzen Land an Arbeits- und Ausbildungsplätzen für Frauen.

Aber auch hier in Deutschland – inmitten von Weltoffenheit und Wohlstand – war es nicht einfach, Fuß zu fassen. Mir gelang der Durchbruch, weil ich an sieben Tagen in der Woche hart gearbeitet habe. Die Belastungen waren immens und ich konnte nicht wirklich wissen, ob ich Erfolg haben würde.

Aber ich habe auch Unterstützung von vielen Menschen erfahren, ohne deren Hilfe mein Weiterkommen nicht möglich geworden wäre.

Auch wenn es Gegenwind gibt und Migranten nicht jedem gleich willkommen sind: Hier in Frankfurt am Main ermöglichte ein Klima von Toleranz und Mitmenschlichkeit, dass ich ein erfolgreiches Unternehmen aufbauen konnte.

An dieser Stelle möchte ich Allen, die mich so unterstützt haben, von ganzem Herzen danken!

Mit meinem „Ambulanten Pflegedienst AHP" kann ich nun meinerseits Menschen, die Hilfe benötigen, zur Seite stehen. Immer wieder freue ich mich, wenn es mir gelingt, etwas von dem weiter zu geben, was ich erhalten habe. Besonders stolz macht es mich, dass ich mit AHP soziales Engagement und wirtschaftlichen Erfolg in Einklang bringen kann: in der täglichen Arbeit mit Menschen für Menschen kann ich das Motto „Wertschöpfung durch Wertschätzung" umsetzen.

Der Ambulante Pflegedienst AHP wurde 1993 gegründet und gibt inzwischen 42 Menschen Arbeit. Nur etwa die Hälfte meines Teams ist deutscher Herkunft, die andere Hälfte kommt aus vielen Teilen dieser Erde. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen Menschen muttersprachlich in mehr als einem Dutzend Sprachen, und sie bringen Verständnis für die Herkunftskulturen ihrer Patienten mit. Infolge dieser Spezialisierung sind auch unsere Kunden nur zu etwa 60% in Deutschland geboren.

Weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie wichtig die deutsche Sprache für Menschen ist, die hier leben und arbeiten wollen, schicke ich alle Mitarbeiter, deren Muttersprache nicht das Deutsche ist, zunächst in einen Sprachurs. Dieser wurde von der Initiative beramí speziell nach unseren Anforderungen entwickelt. Außerdem bilden wir aktuell sechs junge Menschen zu Krankenpflegern, einen Bürokaufmann im Gesundheitswesen aus und haben eine Praktikantin.

Wann immer möglich stelle ich ältere Menschen ein, die auf dem Arbeitsmarkt derzeit kaum Chancen haben, obgleich sie so unschätzbare Beruf- und Lebenserfahrung mit bringen.

Kurz: Ich versuche die Menschen da abzuholen, wo sie stehen, damit sie ihren individuellen Beitrag für die Gesellschaft, in der sie leben, entwickeln und leisten können.

Wie war es möglich, dieses Unternehmen aufzubauen?

Einen Teil meiner Fähigkeiten brachte ich bereits aus Afghanistan mit. Im Lycée Jamhuriat wurden mir in Kabul von deutschen Lehrern die Grundkenntnisse der Wirtschaft und die Vorzüge disziplinierten Lernens sehr erfolgreich vermittelt.

Der Spruch, den Sie sicherlich auch alle kennen: „Morgenstund hat Gold im Mund" war ein wichtiges Motto während meiner Schulzeit.

In Deutschland war zunächst die Sprachenschule der nächste Baustein in meinem Lebensweg.

Zielsetzung hatte immer die höchste Priorität in meinem Leben. Mein wichtigstes Ziel war immer: ein Zuhause für unsere Familie aufzubauen. Weiterhin war es wichtig, dass ich erkannte, dass auch andere Menschen – darunter auch deutsche Familien – meine Hilfe brauchten. Dies konnte ich im ehrenamtlichen Engagement bei Frankfurter Kirchengemeinden, bei Vereinen und vor allem im Asylantenlager erfahren.

Was hat mir noch sehr geholfen?

Immer wieder traf ich auf Menschen die bereit waren mir neue Kenntnisse zu vermitteln und die mir Verantwortung übertrugen. So habe ich beispielsweise als kaufmännische Sachbearbeiterin beim Frankfurter Hartmannsbund sehr viel für spätere Projekte gelernt.

Mit der Gründung des gemeinnützigen Vereins ZAN – das ist der persische Begriff für Frau – setzte ich mich für die Rechte afghanischer und muslimischer Frauen ein. Eine von ZAN entwickelte Ausstellung „Frauenleben in Afghanistan" wurde deutschlandweit in vielen Städten gezeigt. Wir wurden eingeladen, den Vereinigten Nationen von der Lage der Flüchtlinge zu berichten.

Hier hatte ich große Freude und Ehre Frau Nana und Herr Kofi Anan persönlich kennen zu lernen.

Seit einiger Zeit werde ich auf meinem Weg auch in der Öffentlichkeit bestätigt. So wurde mir im Jahre 2004 der „Erste Wirtschaftspreis" „Together in Hessen" verliehen. Im Folgejahr war ich – die ich mich in dieser Stadt inzwischen so heimisch fühlte – „Frankfurterin des Jahres". Letztes Jahr (2008) errang AHP den 15. Platz bei „Best Place to Work", dem bundesweiten Ranking für Unternehmen im Gesundheitswesen. Soeben komme ich aus Berlin, wo mir – ich kann es immer noch nicht ganz fassen – Bundesminister Olaf Scholz das Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht hat.

Diese Anerkennung ist mir ein erneuter Ansporn und Verpflichtung, noch mehr zu leisten und in der interkulturellen Vermittlung noch mehr zu bewirken.

Dies wünsche ich auch Ihnen, dass Sie die mit Ihrem Fleiß und Ihrem Engagement verdiente Auszeichnung in neue Energien für ihren weiteren Lebensweg und ihr künftiges Schaffen verwandeln können.

Nach meiner Erfahrung kommt aus dem so entstandenen Einsatz auf lange Sicht ein Vielfaches zurück. Auch aus diesem Grund erlaube ich mir, das Lycée Jamhuriat noch einmal zur Sprache zu bringen.

Vorhin erwähnte ich bereits die schwierige Lage in Afghanistan. Für das Land ist es unglaublich wichtig, dass die Gesellschaft wieder tragfähige Strukturen entwickelt. Das Bildungssystem – das zuletzt praktisch brach lag – muss wieder aufgebaut werden. Es ist mir ein Anliegen, von Deutschland aus dabei helfen zu können.

Meine frühere Schule, das Lycée Jamhuriat, welche Jahre lang als Munitionslager von den Taliban missbraucht wurde konnte mit europäischen Mitteln und mit tatkräftiger deutscher Hilfe im Jahre 2005 inzwischen wieder eröffnet werden. Über 1.000 Schülerinnen können hier wieder einen Schulabschluss im Wirtschafts- oder Verwaltungsbereich machen. In beiden Zweigen benötigt das Land auch dringend gute Fachkräfte. Die Förderungen haben erste Früchte getragen, aber es fehlt der Schule noch an so vielem, dass eine Aufzählung den heutigen Rahmen sprengen würde.

Ein Beispiel aber will ich nennen: Es werden dringend Praktikumsplätze gesucht. Wäre es nicht wunderbar, wenn es mir gelänge, Sie – meine Zuhörerinnen und Zuhörer – als Partner und Partnerinnen, womöglich als Paten zu gewinnen, etwa indem Sie eine Schülerin in ihr Unternehmen zum Praktikum einladen?

Versuchen Sie zu ermessen, wie hilfreich es wäre, wenn junge Afghaninnen die Chance erhielten, in Deutschland zu lernen, wie ein Unternehmen funktioniert. Es wäre großartig, wenn Schülerinnen des Lycée Jamhuriat hier sehen könnten, wie Arbeit sich organisieren lässt, und wenn sie dann in Afghanistan sich und ihre Familien ernähren könnten. So könnten die jungen Frauen ihren Beitrag zum Wiederaufbau des Landes leisten.

Vielleicht lernen – im Kontakt mit Schülerinnen aus ganz anderen Lebensumständen – auch junge Menschen hier im Land die Inhalte ihrer Ausbildung neu zu schätzen.

Ich freue mich von ganzem Herzen, wenn Sie Ihre Kontaktdaten auf der ausliegenden Liste hinterlassen würden, damit ich Ihnen alle wichtigen Informationen über das Kabuler Wirtschaftsgymnasium Lycée Jamhuriat zukommen lassen kann.

Mein Anteil zur Förderung der Schule wird die Spende meines gesamten Autorenhonorars für meine im Fischerverlag erscheinende Autobiographie an diese Schule sein.

Zuletzt möchte ich Ihnen noch einen Gedanken mitgeben, der ebenso im Wirtschaftsleben gilt, wie beim Umgang mit Menschen, und der meine eigenen Erfahrungen spiegelt: Nicht das, was wir zu wissen glauben wird uns wettbewerbsfähig halten. Einen Vorsprung in dieser sich ständig verändernden Welt verschafft uns einzig unsere Fähigkeit, auf Neues zu reagieren und uns ständig zu wandeln und an neuen Zielen zu arbeiten.

Wirtschaft durch Wertschöpfung und Wertschätzung" dahinter steckt der Gedanke, dass Deutschland nur dann in globalem Wettbewerb bestehen kann, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht. Unternehmen sind keine abstrakten Gebilde und die Marktwirtschaft ist kein absolutes System. Beide werden von Menschen gemacht und können nur funktionieren, wenn Menschen von verschiedenen Kulturen darin ihren Platz finden. So ist eine moderne Wirtschaftspolitik, dass die Wirtschaft wieder sozial und die Unternehmer wieder demokratischer werden.

Wir brauchen Finanzmärkte, die besonders nachhaltig für Bildung, Ausbildung und Weiterbildung investieren.

Zum Schluss möchte ich mich vor allem bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken. Dass ich heute hier stehe und zu Ihnen sprechen darf, ist vor allem dem hohen Einsatz meines Teams zu verdanken. Ohne das tägliche überragende Engagement könnte ich unsere Ziele nicht so stringent verfolgen.

Natürlich gilt mein Dank auch Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.

Nadia Qani, 22.04.2009 – Frankfurt am Main