Martin Gerner

 

Return of a King – The Battle for Afghanistan / William Dalrymple


Bloomsbury Verlag, 2013

Hamid Karzai - so wird spekuliert - möchte nicht als eine Art moderner Shah Shuja in die Geschichtsbücher eingehen. Mit ihm verglichen zu werden wäre gleichbedeutend mit Verrat am eigenen Volk. So wie einst Shah Shuja am Gängelband der Briten auf dem Thron reinstalliert wurde, so fürchtet Karzai als Marionette der US-Amerikaner der Nachwelt im Gedächtnis zu bleiben.


Über den Krieg der Briten gegen die Stämme Afghanistans zwischen 1839-42 liegen viele Dokumente vor, so die Historiker. Einige davon finden Niederschlag in der dari-sprachigen Geschichtsschreibung. Selten aber haben westliche Autoren den Versuch unternommen, systematisch die afghanischen Quellen von damals auszuwerten. So jedenfalls William Dalrymple. Auf voluminösen 500 Seiten erzählt der Autor, dessen Vorfahren selbst im Anglo-Afghanischen Krieg kämpften, jetzt die Rückkehr Shah Shujas an den afghanischen Hof und die Schlacht der Briten um Afghanistan.


Dabei erörtert er Unterschiede und Parallelen zur „Besatzung des 21. Jahrhunderts“, wie er den aktuellen Krieg nennt. Tatsächlich fällt ins Auge: damals wie heute wurde politische Geographie für kurzatmige Strategien instrumentalisiert, die gnadenlos scheiterten. Heute wie vor 170 Jahren sticht die Ignoranz ins Auge, das fehlende Wissen über Afghanistans Stämme und ihre Motive, zu den Waffen zu greifen.


Umso erhellender ist es, wenn der Autor britische und afghansiche Quellen gegenüberstellt und so ein facettenreiches Bild des Anderen zeichnet. Das ist nicht gerade wenig. Denn nach wie vor gibt sich die internationale Öffentlichkeit wenig mit afghanischen Stimmen ab. „Damals wie heute“, so Dalrymple, „wurden Schlachten um die gleichen Orte gefochten. Nur unter anderen Fahnen und jetzt mit neuen Ideologien. Heute werden Militärlager in den gleichen Städten aufgeschlagen, mit Soldaten, die dieselbe Sprache sprechen wie damals. Und die von den gleichen Anhöhen und Gebirgspässen bekämpft werden wie seinerzeit.“


Dalrymple arbeitet plastisch das Verhältnis von Shah Shuja zu William Macnahghten heraus, dem damaligen Feldherrn der Briten und Repräsentant der East India Company. Analogien zwischen Hamid Karzai und der militärischen Führung der ISAF scheinen auch hier nicht zufällig. So notiert Shuja über das Kontingent, das die Briten ihm zur Seite gestellt hatten. „Die meisten Offiziere, die man mir zur Verfügung gestellt hat, sind mir fremd. Ich wede auch im Unklaren gelassen über den Auftrag, der ihnen zugewiesen ist. Sie scheinen nicht einmal zu wissen, dass sie meine Soldaten sind.“


Abenteuerlich mutet die Beschreibung des Trosses an, mit dem die Briten über die Ausläufer des Hindukusch und im Süden einmarschierten: Tausende von Offizieren und Manschaften, gefolgt von 4.500 indischen Sepoys und einem Tross von sage und schreibe 15.500 Bediensteten. Jeder der britischen Offiziere dabei mit einem Dutzend Kamele, behngen mit Kisten voller Tabak, Wein, Brandy und anderen Luxusgütern. Auch hier kommen einem Ähnlichkeiten zu heute in den Sinn.


Nachdem zwei Heere – das eine über Norden, das andere über Kandahar im Süden – 1840 schließlich in Kabul einziehen und Shah Shuja als neuen alten König einsetzen, schlägt die Stimmung gegen die Ankömmlinge bald um. Ein Grund, notiert der Autor, habe in der schieren Größe des Heeres gelegen und den Begehrlichkeiten, die dieses rasch entwickelt habe: „Es gab schon damals in Kabul ein verborgenes Rotlicht-Millieu im Viertel der indischen Musiker und Tänzer, unterhalb der Mauern von Bala Hisar. Aber es gab dort nicht annährend ausreichend indische rundis, um die Nachfrage einer solchen Garnison zu stillen“. So entstand ein reges Geschäft mit afghanischen Prostiutierten, so der Autor, das die Einheimischen rasch verwünschten. Vor allem weil nicht jeder britische Offizier sich standesgemäß verhielt.


Den Fund von Shah Shujas Memoiren, den Wagi'at-i-Shah Shujah, bezeichnet Dalrymple als seinen grössten Glücksfall bei den Recherchen. Detailfreudig und symphatisch zu lesen, nennt er die Memoiren. Dazu jene von Mirza 'Ata Mohammad, erst Schreiber in Shujas Diensten und später mit wachsender Symphatie für den afghanischen Widerstand, nachzulesen im Naway Ma'arek. Schließlich das Akbarnama, eine lyrische Huldigung an Wazir Akbar Khan, den wesentlichen Anführer des Austands gegen die Briten.


Dalrmyple hat einen guten Teil der Primärquellen beim Gang durch die Märkte der Kabuler Altstadt entdeckt, schreibt er. Gleich mehrere Werke erwarb er am Stand eines unscheinbaren Händlers. Afghanische Edelfamilien hatten ihm in den 1970er und 80er Jahren ihre Buchbestände übergeben, bevor sie selbst emigrierten.   Anhand dieser Werke, so der Autor, sei es ihm möglich gewesen den 1. Anglo-Afghanischen Krieg in seinem ganzen Umfang zu erfassen: „Die afghanische Seite mit klar konturierten Führungsfiguren, alles menschliche Wesen mit Gefühlen, individuellen Sichtweisen und eigenen Motivationen. Ganz im Gegensatz zu den britischen Quellen, die die afghanischen Kriegsführer undifferenziert und als Verräter, als bigott oder fanatisch darstellen.“ 


So wird klar, warum frühere Darstellungen über den Rückzug der geschlagenen Briten nach Jalalabad - schlecht vorbereitet, bei Frost und Schnee, der den Meisten das Leben kostete und im Angesicht der Legende, nach nur einer von 15.000 überlebte - im Rückblick als einseitig erscheinen. Wer die Vorgeschichte gelesen hat, die Dalrymple ausbreitet, vermag vielmehr die Kette von Ursachen zu erkennen, der in die Katastrophe führte.
Dalrymple, selbst Engländer heute mit wohnhaft im indischen Delhi und Autor zahlreicher Sachbücher darunter über den Sepoy-Aufstand von 1857, referiert all dies mit dem nüchternen Impuls nach Aufklärung über eines der maßgebenden Kapitel des Great Game, des grossen Spiels zwischen England und Rußland im 19. Jahrhundert. Und heute? „Erst wenn alle tot sind, ist das große Spiel vorüber. Erst dann.“, lässt Rudyard Kipling seinen Helden Kim im gleichnamigen Roman sagen. Als Dalrymple bei seinen Recherchen einen Stammesältesten der Ghilzai-Paschtunen fragt, wie der aktuelle Krieg enden werde, meint dieser: „Dies sind die letzten Tage der Amerikaner. Als nächstes werden wir die Chinesen hier haben.“
 
 
Martin Gerner ist freier Autor und Afghanistan-Korrespondent für den ARD-Hörfunk und DeutschlandRadio sowie für überregionale deutsche Printmedien und Deutsche Welle. Langjähriger Redakteur des Deutschlandfunk und nach 2001 als Trainer und Dozent beteiligt am Aufbau einer neuen Medienlandschaft in Afghansitan.