03.02.2014

Nehmt euch vor Intellektuellen und Mullahs in Acht

Von Ratbil Shamel Ahang

Kabul im Winter 2005 oder 2006: Die Stadt, das pulsierende Herz des ganzen Landes, schlug wieder laut und vernehmlich. Die Hauptstadt der Gegensätze war wieder zum Schauplatz der Weltpolitik geworden. Die neuen Veränderungen hatte unter anderem die sogenannte zivile Gesellschaft mit nach Afghanistan gebracht. Überall in der Stadt gab es Seminare, Sitzungen, Kundgebungen und Pressekonferenzen. Auf einer dieser Veranstaltungen, über die ich als Reporter berichten musste, traf ich zum ersten Mal Qasim Achgar. Ich kannte vorher einige seiner politischen Texte, die mir, der im Westen und seinem kritischen Realismus groß geworden war, ein wenig radikal und - zu einem gewissen Grad - zu poetisch vorkamen.

Ich hatte über ihn gehört, dass er ein ehrlicher Mensch sei, ein wahrer Vorkämpfer der Freiheit. Doch da meine Landsleute gern mit Adjektiven, negativen wie positiven, um sich schmeißen, wusste ich nicht, was ich von dem, was ich gehört hatte, glauben sollte.

Ich hatte aus Deutschland einen Brief für Achgar mitgebracht, also konnte ich sowohl über die Veranstaltung berichten als auch meinen Botendienst erledigen. Ich stellte mir Qasim Achgar als einen sehr groß gewachsenen, kräftigen Mann vor. Warum? Weiß nicht, doch das Erzählte über ihn ließ kein anderes Bild von ihm in mir entstehen. Im ganzen Saal, in dem die Veranstaltung über Menschenrechte stattfand, sah ich keinen Menschen, den ich auf Anhieb für Achgar gehalten hätte.

Also mischte ich mich unters Volk. Hier und da standen kleine Grüppchen von Aktivisten der zivilen Gesellschaft. Meist sprachen sie über ihre aktuellen Interviews und darüber, was sie welchem Sender gesagt haben. Da Qasim Achgar offensichtlich noch nicht da war, hatte ich die Tür im Auge. Es dauerte nicht lange, da betrat ein relativ unscheinbarer, mittelgroßer Mann mit schütterem Haar und einen Schnäuzer, der an die Genossen der kommunistischen Zeit erinnerte, den Raum. Er wirkte sehr bescheiden, doch es ging eine Entschlossenheit von ihm aus, die beeindruckend war. Er sah zwar kein bisschen wie der Achgar aus, den ich mir ausgemalt hatte, doch ich wusste: Das ist er.

Er wurde schnell von einigen Herren umringt und ich vernahm hier und da den Namen: „Achgar Saheb". Die Veranstaltung begann. Obwohl es um Menschenrechte, Gleichheit und Gerechtigkeit ging, nahmen die Bessergestellten in den ersten zwei Reihen auf den bequemen Sesseln Platz und der Rest auf einfachen Plastikstühlen. Achgar saß auf einem Plastikstuhl.

Erst am Ende der Veranstaltung ging ich zu Herrn Achgar, stellte mich vor, gab ihm den mitgebrachten Brief und bat ihn um ein Interview. Er begrüßte mich sehr freundlich und ehrlich. Von den üblichen afghanischen toharof war weder in seinen Gesten noch in seinen Worten etwas zu spüren. Seine Stimme, wie ich auch bei seiner Rede gemerkt hatte, zitterte ein wenig. Achgar, der als die Stimme der Stimmlosen galt, so zu sehen, zeigte mir wieder einmal, wie grausem in diesem Land ein politischer Gegner bekämpft wird. Doch Achgars Peiniger hatten zwar seine Stimme gebrochen, aber nicht seinen Willen zur Freiheit.

Wir suchten eine ruhige Ecke, setzten uns an einen Tisch und das Interview konnte beginnen. Ich fragte ihn spontan: „Herr Achgar, was können sie mir Neues erzählen, als das, was Sie vorhin gesagt haben und als das, was sonst in den Medien von den Experten gesagt wird?" Er schaute mich eindringlich an. Lachte leise, schaute weg, schaute mich wieder an und sagte: „Gut, machen Sie Ihr Aufnahmegerät aus". Ich tat, wie mir befohlen. „Wissen Sie, was unser eigentliches Problem in Afghanistan ist?" fragte er mich traurig lächelnd. Ich war überrascht. Normalerweise stellte ich die Fragen und konnte mich bequem hinter ihnen verstecken, doch nun war die Frage an mich gerichtet. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich schwieg verzweifelt. Er sah meine Verzweiflung und antwortete auf seine Art: „Unser Problem ist, dass weder unsere Intellektuellen noch unsere Mullahs ehrlich sind. Beide Gruppen behaupten, die Wahrheit zu kennen, ohne sie je gesucht zu haben. Beide Gruppen missbrauchen unser Volk, verkaufen es in ihren Geschäften." Während er sprach beobachtete er mich und es schien so, als ob er sehen wollte, ob ich in der Lage war, ihn zu verstehen. Er wollte sehen, ob ich in der Lage war zu spüren, welches Feuer in ihm loderte und welcher Schmerz ihn vorantrieb. Als er sah, dass ich weiterhin schwieg, sagte er bestimmend: „So, das ist unser eigentliches Problem in Afghanistan." Er schwieg kurz und sagte dann väterlich: „Nehmen Sie sich vor beiden Gruppen in Acht."

Nun lese ich seit einigen Tagen, dass Achgar tot sei. Andere wiederum schreiben trotzig, dass er nie sterben werde. Ob Achgar tatsächlich ein ewiges Leben zuteilwird, wird weniger von unseren Parolen abhängen, sondern viel eher davon, wie ehrlich wir diese Parolen meinen. Es wird davon abhängen, wie sehr meine und die kommenden Generationen gewillt sind, ihn und seine Gedanken zu ergründen, sie kritisch zu beleuchten und sie gegebenenfalls zu eigenen zu machen. Andernfalls werden er und seine Visionen von einer gerechten Gesellschaft schnell vergessen sein. Seinen Todestag werden wir sicherlich mit Kundgebungen groß feiern – an schönen Reden und guten Rednern fehlt uns ja nicht.